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Theorie und Therapie der Verhaltenssucht

 

Der APS-Vorstand schlägt eine Zusammenfassung der Vorträge von Prof. Joël Billieux und Renanto Poespodihardjo vor, die auf dem jährlichen APS-Symposium 2021 gehalten werden.

Verhaltenssüchte: Klinische Realität oder Pathologisierung des Alltagslebens?
Prof. Dr. Joël Billieux, Institut de psychologie, Université de Lausanne

Université de Lausanne, ResearchGate

Im Vortrag von Professor Joël Billieux ging es um die Frage, wie Verhaltenssüchte einzuordnen sind: als psychopathologisches Problem und Problem der öffentlichen Gesundheit oder als Verhaltensweisen des täglichen Lebens, die eher zu einer gewissen Normalität gehören? Worauf sollte man achten?

Ein historischer Rückblick zeigt, dass 2013 ein Paradigmenwechsel stattfand, als die Glücksspielstörung im DSM-5 als Suchtstörung eingestuft wurde, ebenso wie die Störungen, die mit dem Gebrauch psychoaktiver Substanzen zusammenhängen. Dennoch motivierte die klinische Realität mit einem Anstieg der Behandlungsanfragen aufgrund von Mustern unkontrollierten Engagements in Videospielen zu einer Reaktion.

Der Paradigmenwechsel im DSM-5 hat jedoch den Weg für die Berücksichtigung einer ganzen Reihe anderer potenzieller “Süchte” geebnet (z. B. “Süchte” nach Essen, Sex oder körperlicher Aktivität, um nur einige Beispiele zu nennen), was ein deutliches Risiko der Pathologisierung des Alltagslebens mit sich bringt. In Wirklichkeit wurden diese “Pathologien” weitgehend auf der Grundlage von Symptomen und nicht der zugrunde liegenden psychologischen Prozesse beschrieben.

Wie ist es dazu gekommen? Bei Verhaltenssüchten ist eine Tendenz zur Anwendung eines sogenannten konfirmatorischen Ansatzes zu beobachten. Das heißt, dass Forscher und Kliniker aufgrund der Beobachtung von Personen mit extremer Beteiligung an einer bestimmten Art von Verhalten häufig von vornherein die Hypothese aufstellen, dass es sich um eine Sucht handelt. Sie entwickeln dann Instrumente und Skalen, indem sie die für die Substanzabhängigkeit verwendeten Instrumente und Skalen auf eine Sucht ohne Substanzen übertragen. Die Ergebnisse tendieren dann dazu, die erwarteten Faktoren wiederzufinden, ohne die beteiligten Mechanismen genauer zu beschreiben. Es wird ein Beispiel für einen Fragebogen gegeben, in dem drei der sechs verwendeten Items nicht mit negativen Auswirkungen auf das tägliche Leben korreliert sind, was dazu führt, dass intensive Gebrauchsmuster pathologisiert werden, unabhängig davon, ob sie problematisch sind oder nicht.

In der Literatur werden Prävalenzraten zwischen 5% und 10% für Videospiele berichtet, was unrealistisch wäre, wenn es sich um eine psychiatrische Störung handeln würde. Wahrscheinlich werden pathologische und nicht-pathologische Spieler verwechselt, obwohl es hilfreich wäre, zwischen ihnen unterscheiden zu können.

Es wurde eine Delphi-Studie mit einem großen internationalen Panel von Experten durchgeführt, die mit problematischen Spielern arbeiten. Die Experten bewerteten die Kriterien des DSM-5 (und der ICD-11) und waren sich nur bei drei Kriterien einig: Kontrollverlust, wiederholter Gebrauch und Gefährdung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Einige Kriterien, wie z. B. die Verträglichkeit, wurden von der Mehrheit der Experten als klinisch irrelevant angesehen. Bei anderen Kriterien, insbesondere Entzug und Emotionsregulation, gibt es keinen Konsens. Es geht also darum, kurze Skalen aus der psychiatrischen Nosographie, die bestimmte Verhaltensweisen zu häufig pathologisieren könnten, mit Vorsicht zu verwenden.

Um die Falle des konfirmatorischen Ansatzes zu vermeiden, muss man sich von einem symptomzentrierten Ansatz lösen und einen Ansatz annehmen, der sich auf die psychologischen Prozesse konzentriert. Diese stellen Mediatoren zwischen dem Symptom und den bio-sozio-ökologischen Faktoren dar, und so richtet sich das Ziel der Behandlung auf diese Mediatoren, d. h. auf die psychologischen Prozesse. Diese Modelle wurden im Bereich der stoffgebundenen Süchte in Betracht gezogen, aber es gibt noch eine Diskrepanz zu den Verhaltenssüchten.

Wirkung und Folgen digitaler psychoaktiver Produkte und ihre Implikationen für die Gestaltung einer therapeutischen Beziehung
Dr. Renanto Poespodihardjo, Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen,
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Dr. Renanto Poespodihardjo sprach über die Wirkung und Folgen digitaler psychoaktiver Produkte und ihrer Implikationen für die Gestaltung der therapeutischen Arbeitsbeziehung. 

Durch seine langjährigen Erfahrungen in der Behandlung von Glücksspielsüchtigen und online Abhängigen im ambulanten und stationären Setting konnte er ein umfassendes Bild dieser Verhaltensstörungen in kurzer Zeit entwerfen. Angefangen hat er mit den gesellschaftlichen Umwälzungen, welche die Digitalisierung mit sich bringt. Als zweites behandelte er die wichtige Frage, was ist wirklich krankhaft und behandlungswürdig. Die Grenzen sind auch bei dieser Störung nicht einfach zu ziehen: Denken wir beispielsweise daran, dass es online Meisterschaften gibt mit Games: Für einige junge Leute, vor allem im asiatischen Raum, ist das ihre Arbeit und ihr Hauptverdienst. Oft besteht die Schwierigkeit, wie bei anderen Suchtstörungen auch, dass sich die Angehörigen zuerst für eine Behandlung anmelden und nicht die Betroffenen. Um mit den Betroffenen ein Commitment zu erreichen, braucht es spezielle Fähigkeiten. Für diejenigen, die nicht «digital natives» sind, ist der Zugang zu diesen Menschen schwierig, da sich die Lebenswelten derart unterscheiden. Er plädierte sehr dafür, dass auch wir in diese neuen Welten eintauchen und eigene Erfahrungen zulassen. Nur so besteht die Möglichkeit ein Verständnis für das Verhalten der online Abhängigen zu entwickeln und Ihnen versuchen zu helfen, sich aus den Verstrickungen zu lösen. Wie auch bei anderen Suchtstörungen erscheint zu Beginn ein attraktiver Autonomiegewinn zu winken, um dann plötzlich aufzuwachen und sich in einer Abhängigkeit wiederzufinden. Die Anekdoten und Episoden aus den Behandlungen, die Renanto Poespodihardjo mit viel Begeisterung und gutem Bildmaterial unterstrich, war unterhaltsam und lehrreich. Vielleicht ermöglichte er mit seinem Vortrag einigen Kollegen und Kolleginnen mit einem neuen Verständnis diesen Menschen zu begegnen und mit Ihnen ein therapeutisches Bündnis eingehen zu können. Wichtig ist, dass wir Therapeuten und Therapeutinnen uns auf diese Klientel zu bewegen. Dies hat der Vortrag von Renanto Poespodihardjo uns eindrücklich für Augen geführt.